Leutnant Hugo Berentelg

Dienstag, 19. Januar 1915, 1.30 Uhr nachmittags

Stehen unter dem Eindruck des Sieges bei Soissons, der nach dem letzten Tagesbericht (vom 15. 11. lt. von Lt. Müller 8./144 5.200 Gefangene und vier- bis fünftausend tote Franzosen brachte. Armeebericht stellt fest, daß französische Verluste größer als bei St. Brirat-Corarlotte. Aber in unseren Tagen! Immerhin höchst erfreulich, wenn auch nur strategisch von lokaler
Bedeutung. Dann dort nun endgültigen Durchbruch anzusetzen, dazu hat Klink wohl nicht die nötigen Truppen hinter sich. Kaiser persönlich dort; wird auch wohl mitgesprochen haben. Ich schiebe überhaupt der persönlichen Initiative des Kaisers viele politische und diplomatische Maßnahmen zu; vertraue ihm auch gern die Entscheidungen an. Den Moltke scheint er doch noch richtig abgesägt zu haben; mag ja sein, daß der Rückzug aller Truppen im September sich hätte bei besseren Ansätzen vermeiden lassen; will aber nicht darüber streiten und urteilen.
Hoffentlich erfüllt Falkenhayn alle Hoffnungen. Schneid hat er, vgl. Verfügung betr. Burschen!
Im neuen Jahr haben wir hier in Frankreich überhaupt gut abgeschnitten. Die 135., Landwehr und Jäger längs der Chaussee haben in den ersten Januarwochen 1.400 Gefangene gemacht; also den Franzosen sicherlich 3.000 Mann Verluste beigebracht. Schätze die Verluste der Franzosen bei Soissons, Argonnen, Oberelsaß im neuen Jahr auf ein Armee Korps!
„Wie immer“ stehen den günstigen Ergebnissen auf der Gesamtlinie wenig günstige Verhältnisse im engeren Gebiete gegenüber.
Wir hier haben besonders im neuen Jahre sehr unter dem Übergewicht der französischen Artillerie zu leiden. 9./144 in diesen neunzehn Tagen 79 Mann verloren, besonders durch die „Berta“ der freilich der Ruhm der „Unsterblichkeit“ durch die 21er endlich vor drei Tagen genommen ist, die aber bereits Ersatz gefunden hat. Und wir 11./144 leiden seit einigen Tagen
unter der „scheren“, die aus woher auf uns sehr genau schießt. Drei verschüttete Tote. Eingang zu Unterständen, sowie Lauf im Beobachtungsgraben mehrfach schon von ihr verschüttet. Unter den Verschütteten war ein Unteroffizier der Reserve , ein dreißigjähriger Bankbeamter, der junge Frau und zwei Kinder hinterließ. Arme Frau! Gott bewahre meine Berta vor dem Schicksal. Ich persönlich besitze seit einiger Zeit eine seltsame Todesverachtung. Kannte/Kennte ich nicht den Schmerz meiner lieben Berta und Vaters, der Geschwister, ich würde mich gleich dem edlen Römer der Republik, tatsächlich glücklich schätzen, mein Leben für die große heilige Sache des lieben deutschen Volkes in die Schanze zu schlagen. –
Mehr als die französische Artillerie macht mir der Gesundheitszustand der Leute Sorgen. Wunderte mich bislang, daß es so gut ging trotz der schlechten Lebensverhältnisse. Höre aber, daß schon seit mehreren Tagen von den anderen Kompanien die Herde der Kranken fortkämen; unten beim Arzt seien des Morgens „kriegsstarke Kompanien“! Seit zwei, drei Tagen auch täglich Leute von uns typhuskrank.
Im Osten unverändert, wird noch wohl länger dauern, bis wir an Warschau sind; glaube dann aber, daß Warschau selbst nicht genommen wird. Es heißt übrigens, Italien erhebe Einspruch gegen Vorgehen an den Dardanellen. Der Einspruch wäre zu verstehen, denn Italien will ohne Zweifel die zukünftige Mittelmeerherrscherin sein, und wird es auch. Andere Frage, ob der Einspruch der Wirklichkeit entspricht. Jedenfalls ist es eigenartig, daß das neue feindliche 2.Geschwader die Dardanellen immer noch nicht beschossen hat, obgleich es schon vor 2 – 3 Wochen dort in der Nähe ist.
Los vom Bahnbau auf Strecke. Hedschas-Bahn – Suez. Wird man hoffen dürfen, daß in einigen Wochen endlich merklich gegen Ägypten vorgegangen wird? Dort ist England am leichtesten und am schwersten zu treffen; denn Ägypten ist der Angelpunkt der englischen Machtstellung; das leuchtet mir von Tag zu Tag mehr ein. Sonst ist Kaukasus Hauptschauplatz. Türken scheinen trotz der russischen Siegesmeldungen die Oberhand zu haben.

Mittwoch, 20. Januar, 12.30 nachmittags

Stehe unter dem Eindruck der Gefährdung durch französische schwere Artillerie. Diese Nacht neue Opfer in dem Unterstande meines Burschen, des Gruppenführers Gefr. Kaiser. Auch dieses Mal Eingang verschüttet. Von den drei Insassen wurde Freiwilliger Hüttmann betäubt, Kaiser erlitt Brandwunden (brennende Decke?), Reservist Natz erstickte bei seinen Aufräumungsarbeiten. Durch Grabenposten wurde Meldung gemacht,
sodaß Befreiungsarbeiten gleich einsetzten. Huttmann war noch ohne Besinnung. Hörte um halb drei davon; brachten Kaiser Cognac. Huttmann phantasierte (Unterstand …), Huttmann Lazarett; Kaiser wohl nur Brandwunden. Der Reservist hatte Brief bei sich an seine Eltern: er wäre des Lebens überdrüssig, wünsche sich den Tod, seine Eltern schrieben ihm ja auch gar nicht mehr. Der Ärmste!
Die Beurteilung der politisch-militärischen Lage steht seit einigen Tagen bei mir unter dem Eindruck des Rücktrittes Berchtolds! Offiziöse Erklärung darüber zu plump! Habe immer schon aus persönlichen Gründen zurücktreten wollen; da jetzt ziemliche Ruhe in der Diplomatie, habe der Kaiser seinen Rücktritt genehmigt. Sodann die Küchenparole: Italien habe Österreich den Krieg erklärt, was sogar der Regimentsmelder bestätigt. Kann und will es auch nicht glauben. Meines Erachtens sind Italiens Interessen nicht bei der Entente vertreten. Jedenfalls hat in den letzten Wochen in der Diplomatie Hochspannung geherrscht. Sollte es wahr sein, dann erblicke ich in dem furchtbaren Erdbeben, das Italien 25.000 Mann kostete vor etwa acht Tagen, die strafende Hand Gottes. Bin neugierig, ob
unser Kaiser Beileidstelegramm geschickt hat.

25. Januar, 11.35 Uhr vormittags

Gerüchte (Bruns – Fléville), daß Rußland durch besondere Gesandtschaften in Serbien, Frankreich, England, Belgien auf Frieden hinarbeiten ließe; zu diesem Zweck sei außerdem der russische Kriegsminister in Berlin! Glaub’s nicht, besonders letzteres nicht. Ersteres schon eher. War schon in den Zeitungen zu lesen, aber ohne Angabe des Auftrages.
Bemerkenswert Symptome:
Wedoll beim alten Franz Josef; der Thronfolger zu unserem Hauptquartier. Daß Burian, der Nachfolger Berchtolds, unseren Bethmann aufsuchte, besagt nichts. Ferner Echo de Paris- Artikel: daß es sinnlos wäre, gegen die deutsche Linie anzusetzen; auch sehr bemerkenswert. Trotz allem glaube ich aber nicht, daß wir Frieden schließen können, so verhaßt unserm Kaiser das Blutvergießen auch sein mag. Unsere Feinde werden uns wohl kaum die Bedingungen gewähren, die wir stellen müssen, um nicht in einigen Jahren abermals vor einem Weltkrieg zu stehen.

England hat noch viel zu wenig mitbekommen; gewiß wirkt die Zeppelinexpedition vor einigen Tagen schon auf die Engländer, wir hier wissen freilich noch nichts Näheres darüber. Wenn in der nächsten Woche vielleicht zwei Dutzend Zeppeline und Flugzeuggeschwader, dazu einige dreißig Torpedos England heimsuchen würden, würde der Mut der Engländer wohl doch allmählich so gering, daß sie zu Konzessionen bereit wären. Was wir fordern müssen? Ballin schrieb neulich, irgendwo, wir müßten unbedingt im Westen Station als Basis für Flotte schaffen. Nur in Antwerpen zu denken. – Daß Frankreich allmählich kriegsmüde ist, glaube ich bestimmt, seit 17. Dezember, dem Tage der Veröffentlichung von Joffres Offensivplan, haben die Franzosen 150.000 Mann verloren!
Ähnlich wohl Rußland. Unsere Lage hier: Die Hare/Here seit drei Tagen still. „Berta“-Ersatz hat unsere Linie noch nicht erfaßt, schießt zu weit. Gesundheitszustand mäßig. Selbst starke Entzündung im Hals,  Allgemeinbefinden gut. Daß neben Jablonski Schumacher das E.K. I. bekommen hat, ist Skandal.
Über achttägige Ablösung, die vor einigen Tagen so bestimmt angekündigt wurde, hört man nichts.
Gestern und heute Recker Beschüten mit Gronaus Butter und Recker Schinken gegessen. Großartig! Berta schickte Prachtexemplare von Äpfeln und Brot.

Amblimont, 9. Februar 1915

Also doch! Am 5. vormittags Befehl, daß 7./144 zu übernehmen. Bald Meldung bei II./144. Vorgänger Oberlt. Petach irrsinnig wegen der Granateneinschläge. Gräßlicher Gang von 11./ zu 7./144, mit Förster zusammen. In gebückter Haltung marsch, marsch, ständig Granaten und Schrapnells, besonders im Gebiet der 7./ Truppe und von da zum Stabe. Schauerlich! Vorübergehend Deckung bei 7./144 bei Felde Groke. Erlaubnis erwirkt, abends allein abzurücken nach Chatel (wegen Koffer). Ein Glück, daß ich nicht erst die Stellung der 7./ zu beziehen brauchte. Wahre Hölle; täglich zwei, drei, vier Mann tot durch Granaten seit vierzehn Tagen.
Unglaublich. Gott stand uns bei auch auf dem Rückmarsch.
Abends 10 Uhr dann mit Gefreitem Bruns und dem Thüringer Schmidt Marsch durch Schützengräben zur Chaussee. Im Gebiet der 8./ stolperte man über vier Tote, die kurz vorher aus ihrem verschütteten Unterstand herausgezogen waren. Weg beschwerlich, da Schützengraben teilweise zusammengeschossen war und diese Stellen von französischem Maschinengewehren bestrichen wurden. Gebückt, teilweise kriechend hinübergeflutscht über derartige Stellen. Oft war man in Telephondrähten
völlig verstrickt. (Ja, die Telephondrähte, eine Geschichte für sich!) Es ging alles über Erwarten gut, bis beim letzten Steilabstieg (unregelmäßige Ruhe, im tiefsten Dunkel!) eine fürchterliche Artilleriesalve unmittelbar bei uns einschlug. Man war wie von Sinnen, der ortskundige Bruns rief: Schnell herüber in Maschinengewehrdeckung. In tollem Salto mortale ging’s herunter, dann um die Ecke in den überfüllten Unterstand hinein. Begleiter
Schmidt fehlte, erst nach einigen Minuten erschien er; war auch auf die Nase gefallen. Weiter? Ja, denn die Salven werden alle Viertelstunde wiederholt. Oder hat man von der heranmarschierenden Ablösung was gemerkt? Führer Bruns wollte warten, ich bestand aber auf Weitermarsch. In der Tat, wiederholten sich die Salven von Zeit zu Zeit; alsdann rechts herunter von der Chaussee ein Stück in den Abgrund; ein anderes Mal in den Unterstand der Regimentswache, woselbst gerade die Ablösung durch Reserve 77 (Ostfriesländer) stattfand. Stacheldraht rechts der Chaussee machte das Deckungnehmen recht mühsam und schmerzlich. In schnellem Tempo, das einen bald Keuchen machte, ging’s die Chaussee weiter. Forsch niedergeschossene Bäume, die den Weg sperrten, zeugten von der Tätigkeit der feindlichen Artillerie in den letzten Tagen und Stunden. Der Pavillon de Barricade, an der Römerstraße, wo am 29. September soviel Gefallene, war seit lange der Artillerie zum Opfer gefallen.
Allmählich war man aus der Gefahrenzone heraus. Wie atmete man auf, als man zum ersten Mal seit 18 Wochen die Ebene von Varennes, Boureuilles, Cheppy, die dunklen Umrisse des hochgelegenen Vauquois mit all’ den Erinnerungen, die sich daran knüpften, wieder sah! In Varennes eingesetzt in Wachtstube des Württemberger Landsturmes, wo die arg schmerzenden
Füße verbunden wurden und eine Tasse Kaffee nebst Brötchen den Nerven etwas Anregung verschaffte. Mühsam schleppte man den matten Körper, den die schmerzenden Beine und wunden Füße kaum mehr tragen vermochten, weiter über die Hauptchaussee, am Lagerplatz neben dem Kirchhof vorbei, der wehmütige Erinnerung an den 1. Rdatsche weckte.
In Apremont abermals Einkehr in Wachtstube, Kaffee getrunken, Fuß verbunden. Um 5 Uhr, also nach siebenstündigem Marsche, langte man völlig erschöpft auf dem Bahnhof von Chatel an. Drei Stunden Schlaf im Wagen II. Klasse. Alsdann stellten sich die beiden braven Begleiter ein mit dem Gepäck, Strümpfe, Schuh, besserer Mantel; und man war fast wieder
halb Mensch. Nach und nach kommen die Menag. des II. Bataillon Feldküche lieferten gute Bohnensuppe und Kaffee. Im Nebengebäude verschaffte man sich Waschgelegenheit. So wurde es bald 12 Uhr und die Fahrt begann. Hpt. Jablonski lud uns zur Besprechung bei etlichen Flaschen Sekt in sein Abteil ein. Während der übrigen Zeit der Fahrt wurde geplaudert, geschlafen.
6 Uhr Sedan. Abendessen für Offiziere und Mannschaft bereit. Wieder mal ein Beweis der guten Organisation. Zug ohne uns ab. Extrawagen. 8 Uhr in Mouzon; 9.30 in Amblimont; bei Regen und Wind. Ein Stündchen mit den Hausleuten geplaudert. Dann winkt das – Bett!

Der letzte Tagebucheintrag vom 23. Februar 1915 aus Amblimont bei Sedan

Anmerkung:

Die Aufzeichnungen der letzten Lebenstage des Hugo Berentelg gingen bei den Kämpfen auf Vauquois verloren. Wie viele andere seiner dort gefallenen Kameraden, konnte auch sein Leichnam nach dem Kämpfen nicht geborgen werden. Aus späteren Aufzeichnungen dort eingesetzter Regimenter wissen wir heute, dass die Gefallenen von Ende Februar bis Anfang März in Massengräbern und Granattrichtern verscharrt wurden. Nur vereinzelt werden Gefallene in Cheppy oder im Vauquois-Wäldchen aus der Zeit ein richtiges Grab erhalten haben.

Wir danken der Familie Berentelg für die Überlassung der Notizen.


Nachtrag der Familie Berentelg

Nachdem das Kriegstagebuch unseres Großvaters Hugo Berentelg als Privatdruck erschienen war, unternahmen wir im September 2018 eine Exkursion nach Lothringen. Wir wollten eine Vorstellung von der Gegend bekommen, die er vor über hundert Jahren so eindringlich beschrieben hat und wo er schließlich im März 1915 gefallen ist. Bei der Gelegenheit sollte natürlich auch Verdun besucht werden. Herr Prisille erklärte sich freundlicherweise bereit, uns bei der Unterkunft behilflich zu sein und uns zu führen. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn er führte uns im Argonnerwald quer durch unwegsames Gelände exakt zu der Stelle, wo die 11./ Kompanie des Inf.-Regiments Nr. 144 vor Le Four de Paris im Herbst und Winter 1914/15 gelegen hatte. Kundig wurden die Überreste erläutert, auf die wie dabei stießen: Gräben, Stacheldraht, Patronenhülsen, ein Schaufelblatt, sogar intakte Wasserflaschen. Die Besichtigung von Vauquois, an dessen Nordhang Hugo Berentelg am 4. März 1915 gefallen ist, war ebenso eindrucksvoll wie die am folgenden Tage in Verdun.

Um es kurz zu machen: Die kompetente, informative Führung von Herrn Prisille übertraf unsere Erwartungen, und wir haben von den beiden Tagen viele Eindrücke, aber auch viele neue Erkenntnisse und Einsichten mitgenommen. Wieder bestätigte sich der Satz Goethes „Man sieht nur, was man weiß“ – dank Herrn Prisille haben wir viel gesehen.

Elisabeth Berentelg-Ali

Wilhelm Berentelg

Dr. Johannes Berentelg