Bericht des Infanterie-Regiment Nr. 30 über den Sturm auf das Werk Marie-Thérèse
Der Sturm vom 08. September 1915, durch den das Werk Marie-Thérèse in unsere Hände kam, krönte die Heldentaten, welche die deutschen Truppen in den Argonnen vom 30. Juni bis 14. Juli vollbracht hatten und wird für immer ein Ehrenblatt in der Geschichte des Regiments Graf Werder bleiben.
Durch die Sturmangriffe im Juni und Juli 1915 waren wir in den Besitz der Höhenstellungen der Argonnen gelangt, aber die Franzosen klammerten sich noch auf der anderen Seite der Höhen und teilweise noch am Rand der Höhen selbst fest. Ihr Hauptstützpunkt war das Werk Marie-Thérèse, das sie mit vielen geräumigen Unterständen, Blockhäusern und günstigen Beobachtungsstellen meisterhaft ausgebaut hatten.
Diesem Werk galt der Angriff am 08. September. Von Marie-Thérèse hatten die Franzosen wochenlang einen heftigen Wurfminenkampf gegen uns unterhalten, der ihnen sehr viel Munition und uns manche Verluste gekostet hatte.
Das Gelände, auf dem General v. Mudra auf einer Breite von etwa 2 km den Angriff durch Truppen der 27. und der 34. Div. angesetzt hatte, verdiente kaum mehr den Namen Wald. Das glühende Eisen, das Wochen und Monate über das Gelände hinweg gefegt war, hatte den Wald bis zur traurigen Unkenntlichkeit gelichtet. Kahles Lehmfeld, zerrissen von Granaten, zerpflügt und zerwühlt von Trichtern, von einem Gewirr von Stacheldraht durchzogen, so sah das Schlachtfeld des 08. September aus.
Wie alle Argonnenangriffe war auch dieser bis in die kleinste Kleinigkeit sorgfältig und gewissenhaft vorbereitet, um Blut zu sparen. Das Vertrauen der Argonnentruppen auf ihre Führer war grenzenlos.
Die Artillerie- und Minenvorbereitung war ein Meisterstück. Wir alle, die wir durch den glänzenden Erfolg der Angriffe im Juni und Juli in moralisch gehobener Stimmung waren, sahen auch dem Erfolg dieses Sturmes mit vollkommenen Vertrauen entgegen, wenn wir auch wußten, daß ohne blutige Verluste die Angriffe nunmal nicht abgingen. Aber was uns noch heute in der Erinnerung ganz besonders gern an diesen Sturm des 08. September zurückdenken läßt, ist der Umstand, daß unsere Verluste dank der hervorragenden Artillerie- und Minenvorbereitung überraschend gering waren, während der verhaßte Feind gehörig Haare lassen mußte und außer etwa 2000 Gefangenen, 50 Maschinengewehren und 50 Minenwerfern ganz ungeheure blutige Verluste hatte.
“Drei Stunden lang haben wir Artillerievorbereitung. Der Sturmzug springt in zwei Abteilungen sofort hintereinander heraus und rennt, ohne Rücksicht auf das, was hinter ihm passiert, über die Gräben hinweg, bis ich Halt! kommandiere. Daß keiner eher in einen Graben springt, keiner kann ihm dann helfen! Merkt euch das! Wir gehen vor mit Sturmgepäck. Bis morgen!”
4.15 Uhr morgens Kaffee-Empfang für die Feldflaschen. 4.30 Uhr antreten. Jeder empfängt 4 leere Sandsäcke, Zigarren, Zigaretten und eine Dose – Vaseline. Die Gasschützer werden getränkt. Nebel brauen im Tale und kleben an den Hängen. Langsam geht es aus dem Lager. Der immer lustige, quecksilberbewegliche Lt. Bästlein sendet durch den Nebel uns seinen Abschiedgruß nach mit Hilfe seines – Grammophons (wohl das einzige in den Argonnen). Die ernsten Gesichter werden heller, die noch müden Gestalten recken sich und bald halt aus trotzigen Kehlen der Refrain: “Heute geh’n wir gar nicht erst ins Bett – Wir fragen nicht, was ist die Uhr – Wir machen heut’ Schockschwerebrett – ne kreuzfidele Extratour.” – “Hab Dank mein lieber Bästlein!” – In der Ferne verwimmert das Grammophon. Ruhe jetzt! Kein Laut mehr
Sieben Uhr sind wir in der Feuerstellung. Die Leute werden in bombensichere Unterstände gelegt. Ich gehe durch die Sturmstellung, prüfe die Leitern. 20 m vor uns der Feind! Ob er ahnt, was ihn erwartet? Er ist so ruhig Kein Schuß! Der blaue Himmel verspricht einen heiteren Tag. – Was wird heute Abend… Ich denke den Gedanken nicht aus. Die Uhren werden nochmals auf die Sekunde gestellt. 7.50 Uhr! – In 10 Minuten geht es los! “Und sie ahnen nicht – die drüben spielen, scherzen, was sich in kurzer Zeit ereignen wird. Schon wankt der Boden unter ihnen – und über ihren Häuptern schwebt Verderben.” Woher fliegt mir dieser Spruch in die Erinnerung und auf die Lippen? Ach ja, aus der Jugendzeit. Der Gesellenverein hatte ein Drama eingeübt, und wir wurden von der Schule zur Aufführung zugelassen. Wo sind sie, die Jugendfreunde? Der eine nach heldenmütigem Kampfe auf See ertrunken, der andere – in Gefangenschaft gestorben. Unverwundet gestorben! In einigen Minuten werden die Artillerie und die Pioniere euch fragen: “Warum?”
Nochmals gehe ich von Unterstand zu Unterstand. Hier ein Scherzwort, dort ermahnend. 7.58 Uhr gehe ich in den Unterstand und da … jetzt geht es los. Eine Stunde hat 60 Minuten, eine Minute 60 Sekunden. Jede mehrere Explosionen der Feldartillerie, Haubitzen, Mörser verschiedenen Kalibers, leichte, mittlere, schwere Minen. Dazu die Abschüsse, das Echo in den Tälern und Schluchten! Französische Artillerie und Minen geben Antwort! Drei Stunden sitzen wir in einem Loch, wie ein Sarg so groß, zu vier Mann. Die Erde dröhnt und zittert unheimlich. Mit aller Anstrengung, einer Zigarette und einem Schluck Kaffee, sucht man der Übelkeit, die infolge der Erderschütterungen zu überfallen droht, Herr zu werden. Viele, darunter ich, sind nüchtern geblieben im Interesse eines eventuellen Bauchschusses.
9 Uhr – 10 Uhr – 10.30 Uhr! – Eine unheimliche Ruhe folgt der ersten Nervenanspannung. Fatalismus oder Wurstigkeit vor dem was kommt, überfällt mich.
Da! tak, tak, tak… ein französisches Maschinengewehr, als wollte es uns warnen, herüberzukommen.
Soll man den französischen Posten bewundern oder über unsere Artillerie fluchen. 10.50 Uhr : Nochmals speien sämtliche Rohre Tod und Verderben, berstend zerreißt der Stahl die Geschosse.
Die französische Artillerie schweigt, schweigt unheimlich. 24 Leitern stehen zur Verfügung, wir müssen in 2 Abteilungen springen. Meine Leute stellen sich auf, auf den Leitern hockt der erste Zug. Flöte in den Mund, Uhr in die Hand! Noch 1 Minute – 1/2 – 1/4? Schrill tönt der Pfiff. Zugleich legt die Artillerie das Feuer weiter vor. Der erste Zug ist jetzt auf der obersten Sprosse. Wieder ein Pfiff. Gewehrriemen in den Mund, die Leiter hoch! Da trommelt das feindliche Maschinengewehr, ein Unteroffizier aus Recklinghausen in W. fällt zurück. Vorwärts, los, los! Über den ersten Graben, über den zweiten, über Unterstände, Blockhäuser, durch Minen- und Granattrichter, über die in zerschossenen Gräben hockenden Franzosen hinweg! Nur weiter! Die Lunge pfeift, die Beine wollen versagen, das Hurra geht in stöhnen über.
Über das von uns beschossene Artilleriegebiet sind wir hinweg. Durch eine Schlucht, auf Händen und Füßen, suchen die Franzosen auszureißen. Das Dickicht kommt, darin Drahthindernisse von mehreren Metern Breite. Drahtscheren heraus! Überwunden! Mit dem Seitengewehr wird das Dickicht geteilt. Hurra! Rechts sehe ich die zweite Schlucht. Wieder den linken Kamm derselben entlang! Auch darüber ist der Zug hinaus. Am jenseitigen Kamm sehe ich den sog. “Gelben Graben”.
“Halb rechts, marsch, marsch, Hurra!” Schon haben wir ihn! Vor mir, etwa 60 m ein tadelloser Graben. Auf ihn! Bald ist er in unseren Händen. Wir sind über unser Ziel hinaus. Alles, was hinter uns, ist überrannt. Das zu erledigen, ist Sache des dritten Zuges und der 10./ Kompanie. Hoch oben auf dem Gipfel sehe ich, rückwärts schauend, wie sie die Gräben aufräumen. Zu meinen Füßen unten in der Schlucht liegt das französische Lager. Da kommt der langersehnte Zug die Schlucht hinunter. Die Franzosen wollen fliehen und laufen in die Arme der 10./ Komp., die gerade aus dem Charmebachtal in die Schlucht einbiegt. Jetzt wollen sie den gegenüberliegenden Hang hinauf. Meine Leute werfen ihnen Handgranaten entgegen. Da wissen sie, was die Uhr geschlagen hat, sie sinken auf die Knie und werden gefangen. Ich atme auf, in meinem Rücken sind keine Franzosen mehr. Sofort wird der Graben in Verteidigungszustand gesetzt für den Gegenstoß, der bald kommt. Wir beglückwünschen uns gegenseitig und lachen uns aus, denn die Vaseline, die wir zum Schutz gegen die beißenden Gasschwaden in die Augen geschmiert haben, hat sich mit Pulverrauch durchsetzt, der Schweiß kommt dazu, die Blutspritzer, teils fremde, teils eigene von den zerschundenen Händen und Gesichtern, die zerrissenen Kleider, besonders die Beinetuis, für welche der Stacheldraht eine besondere Liebhaberei zu haben scheint; wir sind jetzt in solchem Aussehen wahrhaftig barbarenartig. Einer versichert dem andern, dass er einen betrübenden Anblick bietet. Wir tauschen Erlebnisse aus. Posten, die bis La Harazée schauen können, liegen weit vor uns und werden uns im Notfalle schon warnen. Nachmittags Fliegermeldung: “Der Feind holt Truppen auf Automobilen heran, Vorsicht! Die Warnung ist überflüssig. Wir wissen, wir müssen es doch wieder holen, wenn wir etwas aufgeben. Die Leuchtpistole wird wieder geladen, jetzt mit einer anderen Farbe, als Zeichen, falls wir angegriffen werden. Grün hatte ich abgeschossen, jauchzend, es hieß: “Der vorgeschriebene Punkt ist erreicht!”.
Es wird Abend. Posten stehen Mann an Mann. Abends erfolgen Gegenstöße und Feuerüberfälle. Wir lachen. “Nur nicht so stürmisch”, sagt einer. “Was willst du denn, Joffre”, und ähnliche Worte fliegen während des Angriffs hin und her. Nachts um 2 Uhr ein gleicher Überfall mit gleichem Resultat. Am folgenden Tage und die folgende Nacht wird gearbeitet. Dann tritt allmählich der regelrechte Postendienst wieder ein. Einige Franzosen laufen noch über. Alle wollen durch lautes Schimpfen auf Frankreich uns günstig stimmen, aber ein derber Fußtritt mit einem Soldatenstiefel belehrt sie bald, daß wir einen tapferen Feind achten, Überläufer aber niedrig im Kurs stehen.
Aus dem “Ehrenbuch der Rheinländer”